Der rote Schirm. Liebe und Heirat bei Carl Spitzweg

21. August 2024 | - Up To Date, - Up To Date

Kunsthaus Apolda Avantgarde, 1. September bis 15. Dezember 2024

Kuratorin: Dr. Andrea Fromm

 

Ein Mann mit Bettmütze liegt in einer schäbigen Dachkammer auf einer Matratze am Boden unter einer Decke und versucht zu dichten. Über ihm ist ein roter Schirm aufgespannt; wahrscheinlich ist das Dach undicht.

Er erscheint wie zufällig hingestellt, lehnt an Kommoden und in Zimmerecken oder liegt wie vergessen im Gras oder am Boden: In der Bildwelt des Spätromantikers und Biedermeier-Malers Carl Spitzweg (1808-1885) gibt ein roter Schirm Rätsel auf. Von 1835 bis 1880 malt der vom Theater und der Symbolsprache der barocken niederländischen Kunst begeisterte Spitzweg ihn wie ein Requisit immer wieder in seine Bilder hinein. Neben der Häufigkeit sind es vor allem die Beiläufigkeit und die Belanglosigkeit, die ihn in den Vordergrund treten lassen.

Mit der Ausstellung “Der rote Schirm. Liebe und Heirat bei Carl Spitzweg”, die bereits im Frühjahr dieses Jahres im Museum Georg Schäfer in Schweinfurt zu sehen war, begibt sich das Kunsthaus Apolda Avantgarde auf eine äußerst spannende und entdeckungsreiche Spurensuche nach diesem roten Schirm, der von der Forschung bislang unentdeckt geblieben ist und der sich in seiner Bedeutung von immenser Tragweite erweist.

Gezeigt werden nahezu 80 Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Druckgrafiken aus dem Bestand des Museum Georg Schäfer sowie aus anderen renommierten Sammlungen aus dem In- und Ausland: dem Grohmann Museum in Massachusetts, USA, dem Salzburg Museum, Österreich, dem Städelschen Kunstinstitut, Frankfurt a. Main, der Städtischen Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, der Neuen Pinakothek, München und dem Schüz-Museum Haigerloch und aus einigen Privatsammlungen, die namentlich nicht genannt werden möchten.

Ein älterer Herr empfängt von der Treppe seines Hauses aus einen Jugendfreund. Dieser kommt mit Diener, der das schwere Gepäck tragen muss

 

1835 sticht der rote Schirm Spitzweg vermutlich bei den öffentlichen Feierlichkeiten zur Silberhochzeit Ludwig I. auf der Münchner Theresienwiese ins Auge, wo Paare aus unterschiedlichen deutschen Regionen bäuerliche Hochzeitszeremonien nachstellen. Der rote Schirm gehört dabei zur Ausstattung der Hochzeitslader:innen im schwäbischen Raum. Im Vergleich zu anderen Malern geht es Spitzweg indes nie um das Motiv der Hochzeitslader:innen an sich. Von Anbeginn isoliert er den roten Schirm aus seinem Kontext und verschleiert mit ihm, was er auch vor sich selbst am meisten zu verbergen sucht: seine immerwährende Liebessehnsucht. Wie seine anderen Liebessymbole, Liebesbriefe, Blumen oder Kränze, lädt er den roten Schirm mit einer persönlichen Mythologie auf und spielt spitzfindig mit seiner erotischen Konnotation. Denn nicht grundlos fungiert der rote Schirm als Accessoire der Hochzeitslader:innen: Er findet seinen Ursprung in Zeptern, Krumm- und Heroldsstäben und die phallische Form des Stocks und die sich über ihm wölbende Matrix versinnbildlichen jenen Akt, der durch die Heirat legitimiert werden soll. Weltweit gilt er heute deshalb als Zeichen der Sexarbeit.

Mit Gewitztheit und Komik inszeniert Spitzweg darüber hinaus auch Schirme aus der Modewelt als absurdes Macht- und Herrschaftsinstrument, denn der Schirm entwickelte sich aus Baldachinen und Traghimmeln in religiösen und höfischen Bereichen.

Spitzweg zeigt sich auf diese Weise einmal mehr als brillanter und bissiger Interpret seiner Zeit, dessen Aktualität bis heute ungebrochen ist. Vor allem der gesellschaftlichen Oberschicht hält der Sohn eines vermögenden Großkaufmanns mit der Schirm-Metaphorik auf höchst humorige und amüsante Weise den Spiegel vor, denn in der Zeit Spitzwegs gehörten Parapluies und Parasols zu den Luxusartikeln einer gehobenen Gesellschaftsschicht.

Wie viele Intellektuelle kritisiert er die Doppelmoral und die politischen Entwicklungen seiner Zeit, in der die restaurativen Kräfte des Biedermeier und die reformerischen Ansätze des Vormärz zusammenprallen. In puncto Liebe und Erotik übt er vor allem Kritik an dem puritanischen Umgang des bürgerlichen Establishments, das in ihren Verhaltenskodizes den Adel nachahmt. Neben heuchlerischen Anstandsregeln und gesellschaftlichen Tabuisierungen hinterfragt er  das Modell der arrangierten Ehe, das in der damaligen Gesellschaft vielfach zu handfesten Tragödien führt, da Liebe und Leidenschaft nicht gelebt werden können. Daneben widmet sich Spitzweg Fragen, die bis heute kontrovers diskutiert werden, etwa zu sozialen Klassenunterschieden, Diskriminierung von Minderheiten oder der Abschaffung des Zölibats. Nicht zuletzt steht hinter derlei Überlegungen auch Spitzwegs ausgeprägte Skepsis an den wachsenden und entfremdeten zivilisatorischen Prozessen und an der frühen Industriekultur im 19. Jahrhundert, Herausforderungen, die bis in unsere Gegenwart aktuell sind. Den Gegenentwurf dazu entwickelt Spitzweg auf seinen Wanderungen durch die Natur und auf seinen vielen Reisen, insbesondere nach Italien. Hier nimmt er Natur-und Volksnähe wahr, Sinnlichkeit, Leidenschaft und romantische Liebe, die letztlich einem von wirtschaftlichen Interessen geleiteten großbürgerlichen Ehemodell entgegenstehen.

Der frühe Tod des Vaters, der ihm im Alter von 20 Jahren ein reiches Erbe hinterlässt, und die in Italien 1832 getroffene Entscheidung, seinen Apothekerberuf an den Nagel zu hängen und Künstler zu werden, ermöglichen es ihm, dem gehobenen Bürgertum den Rücken zu kehren und dem Zwang einer arrangierten Ehe zu entgehen. Als wäre es heute, stellt sich Spitzweg die Frage, wie will ich leben. Spitzweg, beim Trinken und Feiern stets der Erste, kann die freie Liebe daher in vollen Zügen genießen. Freunde sagen dem lebenslang unverheirateten Spitzweg viele “Amouren und Amürchen” nach. Meistens sind es die Frauen der unteren Stände, die Dienstmädchen und Wäscherinnen mit weißen Schürzen und die jungen Sennerinnen, denen er im Wald begegnet, die seine Leidenschaft entfachen und die er auf seinen Bildern und erotischen Zeichnungen festhält. Für sie gelten nicht jene strengen Moralkodizes, die das Leben der Frauen der gehobenen Stände bestimmen, die von ihren Familien wirtschaftlich lohnend verheiratet werden sollen. Die lesenden, briefeschreibenden oder handarbeitenden Frauen der oberen Schichten, Sujets, die mit der Romantik modern werden, interessieren den rebellischen Geist Spitzwegs daher wenig. Häufig kommentiert er das gesellschaftliche Bild der bürgerlichen Frau in ihrer religiösen Verklärung und ihrer Rolle als Mutter, der einzigen Rolle, die ihrer Existenz gesellschaftliche Relevanz verleiht. Spitzweg, ganz Kind seiner Zeit, gelingt es indes nicht, diesen oft distanzlosen Blick auf die Frau zu überprüfen, denn Geschlechterrollen und Sexualität werden die öffentlichen Diskurse erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigen. Dem weiblichen Körper huldigt er ganz unverfroren mit männlichem Blick.

Dass es eine Frau der unteren bürgerlichen Schichten ist, mit der er sich eine Ehe vorstellen kann, ist daher wenig verwunderlich. Vermutlich Anfang der 1840er Jahre lernt er auf dem Oktoberfest die verheiratete Tischlermeisterstochter Clara Lechner kennen, für die er alle gesellschaftlichen Ressentiments über Bord wirft. Ein Foto von ihr wird erstmalig in der Ausstellung der Öffentlichkeit präsentiert. Tragischerweise verstirbt sie, bevor sie geschieden ist und er sie ehelichen kann. Jahre später begehrt Spitzweg die Schwägerin seines jüngeren Bruders Eduard. Abermals entscheiden allerdings die äußeren Umstände, dass Angelika und Carl kein Paar werden. Angelika wird nach dem Tod ihrer älteren Schwester die zweite Ehefrau Eduards und Spitzweg muss erneut verzichten; Bruderzwist eingeschlossen.

Mit der vielschichtigen Symbolik des roten Schirms und anderer modischer Schirmmodelle nimmt Spitzweg in seiner Malerei nicht nur die bürgerliche Gesellschaft aufs Korn, sondern gibt auch viel über seine persönlichen Erfahrungen und seine Einstellungen zu Liebe und Ehe preis. Wie er selbst sind auch seine Bildfiguren nicht vor Amors Pfeilen sicher. Sie alle werden zum Spiegelbild Spitzwegs, die stürmischen Verführer, schüchternen Verehrer und vor Liebe närrisch Gewordenen, die schrulligen Kaktusliebhaber und die einsamen Wissenschaftler, Jäger und Sennerinnen, bürgerliche Damen und Herren, Apotheker und Mineralogen, ja selbst Eremiten, Mönche und Pfarrer sind der “Liebe” hilflos ausgeliefert und müssen sich mit Verlust, Verzicht und unerfüllter Liebe auseinandersetzen.

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit 176 Seiten, in dem alle ausgestellten Werke abgebildet werden und der das Thema in unterschiedlichen Beiträgen wissenschaftlich aufarbeitet. Eine Vielzahl von Begleitveranstaltungen runden das Programm um den “Roten Schirm” ab und verorten das Thema einmal mehr im Hier und Jetzt, denn in ländlichen Bereichen ist der Brauch der Hochzeitlader:innen bis heute existent.

Dr. Andrea Fromm

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